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Schulgeschichten

[Klara und Therese Saurwein, Oktober 1913]
Klara und Therese Saurwein, 1913

Die folgende Geschichte ist ein Aufsatz, den ich Ende der 1970er-Jahre als Hausaufgabe für den Deutschunterricht geschrieben habe.

Aufgabe war damals, die Eltern oder Großeltern nach ihren Erfahrungen aus der Schulzeit zu fragen. Ich hatte mir dann einen Spaß daraus gemacht, eine „richtige“ Geschichte zu schreiben. Den hier erzählten Schultag aus dem Leben meiner Großmutter hat es zwar nie gegeben, er hätte aber aber durchaus so stattgefunden haben können, denn ich habe ihn aus verschiedenen Erzählungen meiner Großmutter zusammengesetzt.

Beim Aufräumen des Dachbodens ist mir der Aufsatz in die Hände gefallen, und ich fand, er ist doch zu schade, um ihn einfach mit dem Altpapier zu entsorgen.

P.S.: Ich habe den Text beim Abtippen auf die neue Rechtschreibung umgestellt, nicht wundern.

Schule vor 100 Jahren

Haha! Als ich neulich meine Oma nach ihrer Schulzeit fragte, sagte sie: „Tja, da gibt es nicht viel zu erzählen, das war ja nicht viel anders als heute!" Haha! Da kann ich ja nur lachen. Hört Euch mal die folgende Geschichte an, die mir meine Oma erzählt hat:

1. Kapitel

„Aufstehn!“, hallte es durch den Schlafsaal des Waisenhauses Maria Hilf. „Ach nein!“, dachte ich und hatte mich schon auf die andere Seite gedreht, um weiter zu schlafen. Doch da hatte mir Schwester Marina schon die Bettdecke weggezogen und sagte: „Therese, hoffentlich bist du bald draußen! Waschen, anziehen, Bett machen, hopp, hopp!“ Mürrisch stand ich auf und ging in den Waschsaal. Drei Jahre war ich jetzt schon hier im Waisenhaus. Als meine Mutter 1921 gestorben war, konnte mein Vater uns nicht mehr versorgen, so dass meine Schwester Klara und ich 1922 ins Waisenhaus gekommen waren.

Nachdem ich mir die Zähne geputzt und mich gewaschen hatte, ging ich zurück in den Schlafsaal, zog mich an und machte dann mein Bett. Danach mussten wir großen Mädchen noch den Kleinen die Betten machen und ihnen beim Anziehen helfen. Als wir alle fertig waren, gingen wir hinunter in den Esssaal. Dort hatten wir die Tische schon am Vorabend gedeckt. Wenn wir Platz genommen hatten, wurden die Butterbrote verteilt und der Kaffee eingegossen. Im Winter diente er zum Hände wärmen. Ansonsten wurde der Kaffee weggeschüttet, wenn die Nonnen gerade mal wegsahen. Das Zeug war nämlich ungenießbar, bitter wie Galle. Und dann die „leckeren“ Butterbrote! Mit Mehlpapp, einem Gemisch aus Wasser und Mehl bestrichen. Die meisten Kinder aßen es, da der Hunger es hineintrieb. Ich selbst kratzte das ekelige Zeug herunter, schmierte es in die Ritzen der Tischplatte und aß die Schnitte trocken. Nachdem wir das Geschirr weggeräumt und gespült hatten, ging es ab zur Schule. Gott sei Dank!

2. Kapitel

Heute war der 7. Februar 1925, ein Samstag, so dass wir nur 5 Stunden hatten. Wie üblich begann der Unterricht um 8 Uhr. Heute hatten wir in der 1. Stunde das Fach Erdkunde, das unsere Lehrerin Frl. Frentzen unterrichtete. Nachdem sie hereingekommen war und wir gebetet hatten, sagte sie: „Dorchen, hole die große Karte von Deutschland und hänge sie auf!“ Da Frl. Frentzen genau wusste, dass ich nicht gut Orte auf der Landkarte zeigen konnte, wenn ich kurz davor stand, nahm sie mich auch diesmal wieder als erste dran. Ich sagte: „Bitte Fräulein, kann ich das nicht von meinem Platz aus zeigen?“ Das Theater kannte sie schon, ließ mich zufrieden und nahm andere dran, die das gerne machten. Mittlerweile war es 9 Uhr geworden und die Lehrerin gab uns als Hausaufgabe auf, alle Nebenflüsse des Rheins zu lernen.

Dann hatten wir eine kurze Pause von 5 Minuten. Danach begann die 2. Stunde, in der wir heute Deutsch hatten.

Als Frl. Frentzen jetzt die Klasse betrat, befürchteten wir schon, wir müssten jetzt „Die Bürgschaft“ von Schiller aufsagen, die wir für heute auswendig zu lernen hatten. Doch unsere Lehrerin hatte eine Überraschung für uns: „Unser Feldmarschall von Hindenburg wird mit seinem Sonderzug am Bahnhof von Rheydt anhalten und eine kleine Rede halten. Nun hat die Schulgemeinschaft beschlossen, dass aus jeder Oberklasse drei Kinder mit zum Empfang dürfen. Deshalb soll jetzt jeder 3 Namen auf einen Zettel schreiben.“ Nachdem alle Namen verlesen worden waren, stand das Ergebnis fest: Paula Hansen hatte 29, Dorchen Kirch hatte 39 und ich, Therese Saurwein, 49 von insgesamt jeweils 50 Stimmen. Damit hatten wir die Deutschstunde gut zu Ende gebracht und waren froh, dass wir unser Gedicht nicht mehr aufsagen brauchten.

Dann begann die große Pause. Sie dauerte eine Viertelstunde, in der wir auf dem Schulhof unsere Butterbrote essen konnten. Meine Freundin Dorchen Kirch, die nicht im Waisenhaus lebte, sondern bei ihren Eltern, hatte mir auch heute wieder Butterbrote von sich zu Hause mitgebracht. Das machte sie, seitdem sie den Mehlpapp auf meinen Schnitten gesehen hatte. Nachdem die Pause zu Ende war und wir uns in Zweierreihen auf dem Schulhof aufgestellt hatten, was wir immer mussten wenn wir die Schule betraten, gingen wir geschlossen in den Klassenraum zurück. Die Klassen 1 - 6 wurden jeweils einzeln, doch die 7. und die 8. Klasse gleichzeitig unterrichtet, so dass die 8. Klasse praktisch eine Wiederholung war.

Heute hatten wir in der 3. Stunde Rechnen. Da es nur noch 6 Wochen bis zu den Osterzeugnissen waren, wussten wir schon, dass Frl. Frentzen heute wieder Prüfungsrechnen machen würde, d. h. sie stellte uns 10 Aufgaben, die wir dann im Kopf ausrechnen und das Ergebnis aufschreiben mussten. Nachdem Frl. Frentzen unsere Ergebnisse eingesammelt hatte, klingelte es auch schon. Wir mussten aufstehen, um uns zu verabschieden, und dann ging Frl. Frentzen.

In der nun folgenden 5-Minuten-Pause mussten wir auf den Schulhof gehen und das nachmachen, was unsere Lehrerin vorturnte. Nachdem wir wieder geschlossen in die Klasse gegangen waren, begann die 4. Stunde.

Frau Vickart, unsere Gesangslehrerin, kam auch schon. Nachdem wir aufgestanden waren, uns begrüßt und wieder hingesetzt hatten, begann Frau Vickart mit dem Unterricht. Heute wollte sie das Lied „Am Brunnen vor dem Tore“ mit uns einstudieren. Da das aber nicht so klappte, wie sie es wollte, nahm das die ganze Stunde in Anspruch.

Da wir nach der 4. Stunde, die um 12 Uhr zu Ende war, keine Pause mehr hatten, kam auch schon der Pastor, bei dem wir in der 5. Stunde Katechismus hatten. Wir mussten aufstehen, um zu beten, denn beim Pastor mussten wir immer beten. Dann begann der Unterricht. Der Pastor stellte uns Fragen aus dem Katechismus, die wir dann beantworten mussten. Übrigens benachteiligte er uns Kinder aus dem Waisenhaus gegenüber den anderen Kindern aus der Klasse sehr. Die Bessergestellten redete er mit Vornamen, uns aber mit Hausnamen an. Wenn niemand aus der Klasse die Antwort auf eine Frage wusste, sagte er immer: „Weiß das keiner? Dann wird uns das mal die Saurwein sagen!“ Und ich wusste die Antwort auch meistens. Aber trotzdem hat er mir im nächsten Zeugnis ein „genügend“ gegeben. Damit war ich, meine Lehrerin und auch die Schwestern im Waisenhaus nicht zufrieden. Als Schwester Marina ihn zur Rede stellte, sagte er: „Genügend genügt!“

Am Ende der Stunde stellte er uns die Hausaufgabe. Dann mussten wir beten und wurden entlassen.

3. Kapitel

Als wir im Waisenhaus angekommen waren, gab es Mittagessen, das wir meistens in Eimern aus der Küche holten. Danach mussten wir das Essgeschirr abräumen und spülen. Wenn wir das erledigt hatten, ging es an die Hausaufgaben. Nach Beendigung derselben hatten die Schwestern verschiedene Aufgaben für uns. Heute mussten ich und einige andere Mädchen Fenster putzen. Wir gingen zur Station, um von dort die einzige Leiter zu holen, die es im ganzen Waisenhaus gab, doch wir bekamen sie nicht. Also mussten wir einen Tisch ans Fenster rücken und einen Stuhl darauf stellen. Dann stieg ich auf den Stuhl, den einige Mädchen festhielten und putzte die Fenster. Als wir fast alle geputzt hatten, ließen die Mädchen einmal den Stuhl los, während ich darauf stand, weil sie durch etwas anderes abgelenkt worden waren. Und dann passierte es: Der Stuhl kippte! Ich wäre fast aus dem Fenster gefallen, das sich im 2. Stock befand, wenn ich mich nicht in letzter Sekunde am Fensterkreuz hätte festhalten können. Nachdem die Mädchen mir heruntergeholfen hatten, klingelten auch schon einige empörte Nachbarn, die den Vorfall beobachtet hatten. Seitdem hatten wir zum Fenster putzen immer eine Leiter.

Dann gab es Abendbrot. Wie meistens bestand es auch heute aus Butterbroten und „Milchsuppe“. So wurde die Pampe jedenfalls genannt. Das war eine klumpige Brühe aus Mehl und anderen Sachen. Manchmal war vielleicht auch in dem ganzen Essen zusammen ein Liter Milch drin. Pfui! Ich darf gar nicht daran denken! Wenn wir dann gespült und die Tassen für den nächsten Morgen hingestellt hatten, ging es nach so einem arbeitsreichen Tag wie immer um 6 Uhr, spätestens um halb 7 ins Bett.

Ende

Therese Saurwein, 1932

In Erinnerung an meine Großmutter
Maria Theresia „Therese“ Omerzu, geb. Saurwein,
1911 – 1995.

Hintergründe

Waisenhaus in Rheydt

In der Geschichte nennt meine Oma das Waisenhaus „Maria Hilf“. Ob dieser Name wirklich richtig ist, da bin ich allerdings skeptisch.

Auf einem für meine Großmutter im August 1929 ausgestellten Zeugnis finde ich den Stempel „Kath. Waisenhaus * Rheydt * Kronprinzenstraße 22“. In der Rheydter Stadtgeschichte lese ich, dass diese Straße später in „Waisenhausstraße“ umbenannt wurde.

Somit handelt es sich wohl um das heute dort noch stehende ehemalige Waisenhaus und Altersheim der katholischen Pfarrgemeinde St. Marien, das 1899 – 1901 erbaut und 1990 in die Denkmalliste der Stadt Mönchengladbach eingetragen wurde und nicht das Waisenhaus „Maria Hilf“ im benachbarten Gladbach.

„Genügend genügt“

Vielleicht hat sich jemand beim Lesen meiner Geschichte gewundert, dass die Note „genügend“ so eine Empörung hervorrief. Im damals üblichen vierstufigen Notensystem entsprach „genügend“ der zweitschlechtesten Note vor einem „ungenügend“.

Aus Erzählungen meines Vaters weiß ich, dass meine Großmutter eine sehr gute Schülerin war, die normalerweise nur Einsen und Zweien mit nach Hause brachte.

Anscheinend haben die Proteste letztlich doch gefruchtet, jedenfalls steht im Entlassungszeugnis meiner Oma, das ein Jahr später ausgestellt wurde, für „Katechismus“ die Note „gut“, für „Biblische Geschichte“ sogar „sehr gut“.

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